zooschweiz - Verein wissenschaftlich geleiteter zoologischer Gärten der Schweiz
zoosuisse - Association des parcs zoologiques suisses gérés de façon scientifique

Waldrapp durch Stromschlag in Graubünden getötet

Das Weibchen Sonic hat bereits 2019 Berühmtheit erlangt. 400 Jahre nach der Ausrottung dieser Ibisart in Europa kehrte sie als erster Waldrapp wieder in das ehemalige Brutgebiet bei Überlingen am Bodensee zurück. Dafür suchte sie sich, aus dem Wintergebiet in der Toskana kommend, in der Schweiz einen Weg über die Zentralalpen. Im Herbst kehrte Sonic in die Toskana zurück, um am 7. April 2020 neuerlich aufzubrechen. Wieder folgte das inzwischen geschlechtsreife Weibchen derselben Route. Nach einer Verzögerung, infolge von Schlechtwetter, erreichte sie am 18. April den Kanton Graubünden. Die Nacht auf den 19. April verbrachte sie im Gemeindegebiet von Lohn im Naturpark Beverin. Dort wurde sie am darauffolgenden Morgen von einer Bewohnerin des Ortes unterhalb eines ungesicherten Strommasten tot aufgefunden, von einem verständigten Wildhüter geborgen und zur pathologischen Untersuchung ins Tierspital Bern gebracht.

Als Todesursache wurde Stromschlag festgestellt. Für den Leiter des europäischen Wiederansiedlungsprojektes, den Biologen Johannes Fritz, ist diese Todesursache keine Überraschung: „Stromschlag an ungesicherten Mittelspannungsmasten ist eine bislang viel zu wenig beachtete Bedrohung für die Artenvielfalt. 35% der Todesfälle bei unseren Waldrappen, einer vom Aussterben bedrohten Vogelart, werden dadurch verursacht.“
Übereinstimmende Daten gibt es auch für den Uhu in der Schweiz. Wie die Universität Bern bei einer Studie im Kanton Wallis herausgefunden hat, sind etwa ein Drittel der Totfunde dieser Eulenart auf Stromschlag zurückzuführen. Damit ist auch für den Uhu Stromschlag die häufigste nicht natürliche Todesursache, was laut der Schweizerischen Vogelwarte Sempach eine ernstzunehmende Bedrohung für diese Art darstellt. Die Vogelwarte verlangt daher schon lange eine Sanierung der gefährlich konstruierten Mittelspannungsmasten in der Schweiz.

Betroffen von diesen elektrischen Fallen sind neben dem Waldrapp und dem Uhu auch andere Grossvogelarten, wie der Weissstorch, der Rotmilan oder der gegenwärtig in der Romandie angesiedelte Fischadler. Aber auch kleiner Arten ab einer Spannweite von 70 cm sind stromschlaggefährdet. Strommasten werden gerne als exponierte Rast- und Schlafplätze genutzt. Dabei kann es durch Kurzschluss oder Erdung zum Stromfluss kommen, was für den Vogel in der Regel tödlich endet. Gerade bei sozial lebenden Vögeln, wie dem Waldrapp, kommen bei solchen Vorfällen oft mehrere Vögel gleichzeitig um. Dies zeigt ein Vorfall in Oberösterreich, bei dem ein ungesicherter Strommast als Schlafplatz genutzt wurde und den Tod von gleich fünf Waldrappen verursachte.

Das Wissen, wie elektrische Leitungen vogelsicher saniert werden können, ist schon lange vorhanden. Leitungen können mit Kunststoffummantelungen im Bereich der Masten isoliert und die Masten so gesichert werden. Die Wirksamkeit der Massnahmen zeigt sich in Deutschland, wo auf der Basis einer gesetzlichen Regelung inzwischen mehr als 90% aller Masten bundesweit gesichert sind. Johannes Fritz: „Unsere Waldrappe halten sich viel in Süddeutschland auf, aber seit Jahren gab es dort keine Verluste durch Stromschlag. Daran zeigt sich, dass diese signifikante Bedrohung für die Artenvielfalt mit vergleichsweise geringem Aufwand umfassend beseitigt werden kann.“

„Auch in der Schweiz muss das Nachrüstern von Strommasten eine vorrangige Massnahme für den Artenschutz sein“, fordert auch Roger Graf, Geschäftsführer der Schweizer Zoovereinigung zooschweiz, welche sich für die Wiederansiedlung der Waldrappe in der Schweiz engagiert. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) und der Verband Schweizer Elektrizitätsunternehmen hat bereits 2009 einen aktuellen Katalog der gefährlichen Freileitungsmasten sowie der wichtigsten Sanierungsmassnahmen publiziert. Inzwischen sind einige Verbesserungen umgesetzt worden, beispielsweise im Wallis und im Berner Seeland. Aber noch immer befinden sich tausende gefährliche Strommasten in der ganzen Schweiz, wie der Fall des Waldrapps Sonic zeigt. In der aktuellen Vernehmlassung zu einer Gesetzesverordnung schlägt der Bundesrat vor, dass die Sanierung von bestehenden Leitungen bis zum Jahr 2030 vorgenommen werden muss. Das geht dem Verband zooschweiz zu langsam. „Angesichts der Dringlichkeit ist rasches Handeln erforderlich; gefährliche Strommasten sollen bis Ende 2025 gesichert werden“, so Roger Graf.

Für das Wiederansiedlungsprojekt ist der Verlust von Sonic wohl ein herber Rückschlag, der aber die Gründung der Brutkolonie in Überlingen nicht gefährdet. Weitere elf Vögel sind derzeit am Weg aus der Toskana. Sie werden in den nächsten Tagen und Wochen hoffentlich wohlbehalten im Überlingen ankommen. Ob es in diesem Jahr schon zur ersten Brut kommt ist fraglich, da das nötige Brutmanagement für die noch junge Kolonie aufgrund der aktuellen COVID-19 Pandemie stark beeinträchtigt ist. In den beiden schon etablierten Brutkolonien Burghausen in Bayern und Kuchl im Land Salzburg sind bereits sieben Paare angekommen und haben zum Teil mit der Brut begonnen.

Im Rahmen des Wiederansiedlungsprojektes soll der Waldrapp in Europa wieder heimisch werden. Die wildlebende Population umfasst inzwischen rund 140 Tiere, aufgeteilt auf drei Brutgebiete und mit einem gemeinsamen Wintergebiet in der Toskana. In den nächsten Jahren sollen weitere Kolonien gegründet werden. Angedacht ist das auch für die Schweiz, wo der Waldrapp Mitte des 17. Jahrhunderts noch recht häufig vorkam und das für Europa bedeutende Vorkommen durch den damaligen Schweizer Naturforscher Conrad Gessner hinreichend belegt ist.